Holzschnitt 1510
    
Nikolaus von Flüe
Bruder Klaus  
  
 
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   Die Brunnenvision · Kern der Spiritualität
  Überliefert von Caspar am Büel um 1500
  
Holzschnitt im Pilgertraktat 1487
  
   Bruder Klaus sitzt meditierend an einem Bach, den Blick ganz nach innen gerichtet. Aus einem Tempel, einem Tabernakel, entspringt eine Quelle lebendigen Wassers, das als Bach vom Berg herab unaufhörlich ins weite Land sprudelt. Der Tabernakel ist sein eigenes Herz. Handkolorierter Holzschnitt im «Pilgertraktat»  (Augsburger Inkunabel um 1488 – älteste Darstellung von Bruder Klaus).
   
Ein Mensch unterbrach seinen Schlaf, wie es Gottes Wille war, um sein Leiden [Passion Jesu] zu betrachten. Er dankte Gott wegen seines Leidens und seines Martyriums. Gott aber gab ihm die Gnade, dass er darin Kurzweil und Freude hatte. Dann legte er sich wieder zur Ruhe. Doch in seinem Schlaf oder in seinem Geist dünkte es ihn, als ob er auf einem Dorfplatz stünde. Hier sah er eine grosse Zahl von Menschen, die alle hart arbeiteten und trotzdem so arm waren. Er stand da und schaute ihnen zu und wunderte sich sehr, dass sie so viel arbeiteten und dennoch so arm waren.
  
Plötzlich zeigte sich auf der rechten Seite ein Tabernakel, wohlerbaut. Eine offene Türe führte hinein. Und er dachte bei sich: Du musst in den Tabernakel hineingehen, du musst schauen, was sich drinnen befindet und musst schnell durch die Türe eintreten. Er kam in eine Küche, die einer ganzen Gemeinde gehörte. Zur rechten Hand führte eine Treppe hinauf, vielleicht vier Stufe hoch. Ein paar Leute sah er hinaufgehen, aber nur wenige. Ihm schien, ihre Kleider seien weiss gesprenkelt.
  
Er bemerkte, wie die Stufen herab, zur Küche hin, ein Brunnen in einen grossen Trog floss. Dieser enthielt dreierlei: Wein, Öl und Honig. Dieser Brunnen bewegte sich so schnell wie der Blitz und entfachte ein brüllendes Tosen, so dass der Palast laut erschallte wie ein Horn. Und er dachte bei sich: Du musst die Treppe hinaufsteigen und schauen, von woher der Brunnen kommt. Zugleich wunderte er sich sehr, dass die Leute so arm waren und nicht zum Brunnen kamen, um daraus zu schöpfen, obwohl er doch für alle da war. Mit diesen Gedanken ging er die Stiege hinauf und gelangte in einen weiten Saal. In der Mitte sah er einen viereckigen Kasten stehen, aus dem der Brunnen sich ergoss. Er näherte sich dem Behälter und betrachtete ihn. Während er auf den Kasten zuging, sank er ein, genauso, wie wenn man durch einen Sumpf schreiten will. Da zog er schnell die Füsse an sich. Und er erkannte in seinem Geiste, wer nicht schnell seine Füsse an sich zieht [und sich tragen lässt], kann nicht zum Brunnenkasten hingelangen.
  
Der Behälter war auf den vier Seiten mit eisernen Blechen beschlagen. Und dieser Brunnen floss durch eine Röhre hindurch, dabei gab es einen so schönen Gesang im Brunnenkasten und in der Röhre, dass es ihn sehr erstaunte. Dieser Brunnen war so klar, dass jedes Menschenhaar auf seinem Boden zu sehen gewesen wäre. Und wie gewaltig er sich auch ergoss, so war doch der Kasten stets wimpernvoll, so dass er unaufhörlich überquoll. Und es dünkte ihn dabei, wieviel auch daraus floss, es war wohl dennoch immer mehr darin. Er sah, wie es aus allen Ritzen tropfte und zischte.
  
Nun dachte er bei sich: Ich will wieder hinabsteigen. Als er das tat, sah er den Brunnen mächtig in den Trog fliessen und meinte: Ich will hinausgehen und schauen, was denn die Leute so sehr beschäftigt, dass sie nicht hineinkommen, um aus dem Brunnen zu schöpfen, worin doch ein so grosser Überfluss ist. Er ging zur Tür hinaus. Dort sah er die Leute schwere Arbeit verrichten, und trotzdem waren sie sehr arm. Nun achtete er genau darauf, was sie denn taten. Da bemerkte er einen, der hatte mitten durch den Platz einen Zaun errichtet; er stand vor einer Schranke und verwehrte mit der Hand den Leuten das Weitergehen. Er sagte ihnen: Ich lass euch weder hin- noch hergehen, es sei denn, ihr gebt mir den Pfennig. Ein anderer stand da und jonglierte mit Knebeln; dabei sagte er: Es ist dazu erdacht, dass ihr mir den Pfennig gebt. Dann sah er Schneider, Schuhmacher und allerlei Handwerksleute. Und jedesmal, wenn sie ihre Arbeit verrichtet hatten, waren sie hinterher dennoch so arm, wie wenn sie gar nichts bekommen hätten. Niemand sah er hineingehen, um aus dem Brunnen zu schöpfen.
  
Als er dastand und den Leuten zusah, verwandelte sich die Umgebung und bekam die schroffen Umrisse der Gegend bei Bruder Klausens Kapelle, wo er seine Zelle hatte. Und er erkannte in seinem Geiste: Dieser Tabernakel ist Bruder Klaus [sein Inneres, sein Herz].
  
Brunnenvision von Bruder Klaus, überliefert durch Caspar am Büel (um 1500), aus dem Buch: Werner T. Huber, Bruder Klaus, Niklaus von Flüe in den Zeugnissen seiner Zeitgenossen, Benziger Verlag, Zürich 1996 – Quelle 068
     
Von der Brunnenvision sind zwei Versionen überliefert:
· Handschrift Caspar am Büel (Ambühl), vor 1500 –
Quelle 068
· Heinrich Wölflins Biografie, 1501 –
Quelle 072
  
Synoptischer Vergleich beider Versionen (am Büel – Wölflin)   

Kommentar zur Brunnenvision
  
Eine Vision ist immer auch ein Gleichnis, ein Bild. Um den Rahmen des Bildes besser verstehen zu können, müssen wir in der Zeit zurückblenden. In der mittelalterlichen Kirche steht der Tabernakel zwar vorne im Chor, aber auf der linken Seite, in die Mauer versenkt. Um das Türchen herum, sind oft gotische Bauelemente im kleinerem Format angebracht, so dass der Tabernakel aussieht wie ein Häuschen. Daher kommt auch die Bezeichnung «Sakramentshäuschen».
  
Bruder Klaus erlebt intensiv den Kontrast zwischen draussen und drinnen. Auf einem grossen Platz, der die weite Welt bedeutet, sind die Menschen mit allerlei Dingen beschäftigt. Mitten drin steht jedoch ein schönes Haus, dem Aussehen nach sogar ein Palast. Bruder Klaus nennt das Haus «Tabernakel», d. h. Haus, in dem das Allerheiligste wohnt, das Haus, in dem Gott wohnt.
  
Am 16. Oktober 1467 verliess Niklaus von Flüe Frau und Kinder, Haus und Bauernhof, er löste sich von all seiner Habe und all seinem Gehabe. Er wollte draussen in der Welt als freier Pilger umherziehen und die Wallfahrtsorte besuchen. Aber es kam alles völlig anders. Seine Berufung war eine andere. Die Richtung seines Weges änderte sich radikal, nicht nur geographisch, weil er wieder ins Obwaldnerland zurückkehrte. Der Weg nach draussen wurde umgewendet zum Weg nach innen. Gott wohnt im Innern der Menschen, im Herzen: Das Herz ist der Tabernakel. Das ist der Kern der Vision.  Drinnen, im Herzen, ist Gott zu finden, hier ist die Quelle des Lebens, des Lichtes, des Friedens und der Freude. Das Wasser aus dem Brunnen, drinnen im Haus, drinnen im Herzen, ist die Gnade Gottes, die Leben gibt – Gabe Gottes, Geschenk Gottes. Wenn dieses nun – man bedenke, es ist ein Bild –, aus dreierlei besteht, nämlich aus Wein, Öl und Honig, so könnte man meinen, dies beziehe sich auf die Dreifaltigkeit Gottes: Wein = Vater, Schöpfer; Öl = Sohn, der Gesalbte (=Christus); Honig = Heiliger Geist, Liebe. Dies kann so gedeutet werden, ist jedoch nicht zwingend. Näherliegend zu sein scheint der Pfingsthymnus «Veni, Creator Spiritus» (Komm, Schöpfer Geist – 9. Jh. – siehe Link unten), in deren zweiten Strophe der
Geist Gottes ein «lebendiger Brunnen» (fons vivus) genannt wird und daran anschliessend «Feuer» (ignis = Wein), «Liebe» (caritas = Honig) und «Seelensalbung» (spiritalis unctio = Öl).
  
Brunnen, Honig ... Unverkennbar erscheint nun auch eine Querverbindung zu einer Stelle im sogenannten «Pilgertraktat» (
Quelle 048), wo der unbekannte Pilger in seiner eigenen Interpretation des Meditationsbildes von Bruder Klaus schreibt: «... er [Gott] ist ein Brunnen, aus dem alle Weisheit ausfliesst, diese wird dem mitgeteilt, der ihrer aus echter Liebe begehrt. Das ist die süsse Einfliessung des Heiligen Geistes, dadurch es uns ermöglicht wird, dass wir seine klare Gottheit ewig anschauen können.»
  
Bruder Klaus will den Fluss, hinauf bis zur Quelle, erforschen. Aber es versagt ihm die Kraft seiner Füsse. Er droht im Sumpf seiner eigenen Möglichkeiten zu versinken. Der Mensch ist nicht stark aus eigener Kraft (1 Sam 2,9; Ps 33,13–22; 147,10–11), er muss auf Gott vertrauen und sich von seiner Liebe tragen lassen, der Mensch ist auf die geschenkte Kraft und Weisheit Gottes angewiesen. Er muss seine Eigendynamik, sein eigenes Machtgehabe, alles Unwesentliche, ganz und gar loslassen. Nur so kann er sein Leben in wesentlicher Weise gewinnen, von Gott neu als Geschenk empfangen.
  
Der Mensch kann nicht selber Gott sein, vielmehr sollte er zuerst recht Mensch werden und der Bestimmung des Schöpfers entsprechen, er soll Kind Gottes werden und in seiner Nähe, in seiner liebenden Zuwendung leben. Aber seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden wollen die Menschen selber mächtig sein. 500 Jahre vor Christi Geburt meinte eine Gruppe von Menschen, die sich selbst für die Weltlelite hielt, wenn der Mensch die Zahlen kenne, dann könne er letztlich die ganze Welt beherrschen. Im Geld wurde diese Idee von der Macht der Zahlen schliesslich Wirklichkeit, Missbräuche mit tragischen Auswirkungen inbegriffen. Geld ist Zahl, Geld ist das Mass aller Dinge. Messen aber die Menschen nicht mit dem falschen Mass? Die Vision enthält darum auch eine handfeste Kritik über den Missbrauch des Geldes. Dabei erscheinen die im Bilde gezeichneten Menschen mehr als «kleine Fische», wenn sie, um leben zu können, für ihre Leistungen Geld fordern.
  
Alles im Leben der Menschen hat anscheinend seinen Preis, alles wird mit Zahlen gemessen, alles und jedes ist der Diktatur des Geldes unterworfen. Und so könnte der Kontrast nicht grösser sein, zwischen draussen und drinnen, wenn man diesem eigendynamischen Treiben der Menschen einen Vers im Prophetenbuch Jesaja entgegenstellt: «Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser! Auch wer kein Geld hat, soll kommen. Kauft Getreide, und esst, kommt und kauft ohne Geld, kauft Wein und Milch ohne Bezahlung!» (Jes 55,1; vgl. Joh 7,37) Das korrespondiert auch mit einem Vers im Magnifikat: «Esurientes implevit bonis et divites dimisit eanes.» (Lk 1,53: Die Hungernden erfüllt er mit Gütern; die Reichen aber schickt er leer weg.) – In einer anderen Vision, der Vision vom singenden Pilger, wird das Verhalten der Menschen noch krasser geschildert: Vor lauter Jagd nach dem Geld haben sich die Menschen von der «Wahrheit» abgewandt; diese erscheint hinter ihrem Rücken in der Gestalt eines Veronika-Tuches, d. h. als der Schmerzensmann Jesus.
  
Eingangs der Vision wird gesagt, dass Bruder Klaus die Passion Christi betrachtet hat – dieser Gedanke ist für das Verstehen der ganzen Vision wichtig. Plötzlich öffnet sich eine Türe und er tritt ein in die Vision. Im Leiden und Sterben Jesu am Kreuz offenbart sich die befreiende und lebendig machende Wahrheit, nämlich die Wahrheit der masslosen Liebe Gottes. Das Tun Gottes ist völlig frei von jeglichem Mass, die Zahl des Menschen ist ihm unbekannt. In der Vision erscheint dieser Kontrast als Sinnspitze: Der von der Zahl geprägten Macht der Menschen setzt Gott seine masslose Liebe entgegen. Gegenüber der menschlichen Macht zeigt sich diese Liebe – die keinen Massstab kennt –, in Jesus am Kreuz zunächst als ausweglose Ohnmacht (vgl. 1 Kor 1,22–28). Im Weg nach innen erweist sie sich aber als die allein rettende Macht, als einzige Quelle des Lebens. Insofern wird das Kreuz zum Mass aller Dinge, zum Zeichen der wirklichen Macht. Gott, dessen Gnade und Liebe über alle Masse gross sind, wird in der Vision symbolisiert durch den überfliessenden Brunnen (der wiederum auf Hebräisch «Ajin schephah» heissen müsste).
  
Im 15. Jahrhundert ereignete sich der Übergang von der Naturalienwirtschaft zur Geldwirtschaft. Für viele brachte dies einen praktischen Nutzen, öffnete aber auch die Tore für den Missbrauch. Akademiker erkannten die neue Situation auf ihre Weise. Kaum hatten sie ein Studium in den Freien Künsten (artes liberales) abgeschlossen, versuchten sie im kirchlichen Bereich unterzukommen. Eine Pfründe sollte ursprünglich den Lebensunterhalt sichern. Das änderte sich. Nun setzte zunehmend eine Jagd nach Pfründen ein. Es konnten durchaus auch mehrere sein, an verschiedenen Orten, auch weit weg, das Geld war ja leichter zu transportieren als Naturalien. Diese «Pfründenjäger» im Kirchenwesen waren jedoch oft nicht Priester sondern einfach nur Nutzniesser. Einige von Ihnen reisten extra nach Rom und stellten sich in päpstliche Dienste – wie auch immer. Zurück brachten sie dann ein Pergament mit einem Bleisiegel, das ihnen eine bestimmte Pfründe zusichern sollte, die Inhaber der Vergaberechte wurden vorher nicht gefragt und so vor den Kopf gestossen. Ein solcher Pfründenjäger wurde bald auch «Kurtisan» genannt. Waren die Verantwortlichem ihm nicht zu willen, setzte er alle möglichen Tricks ein, um sein Vorhaben durchzusetzen. Ein berüchtigtes Beispiel dafür war Nicolao Garriliati, der in Bern um 1480/81 für grosses Aufsehen sorgte (vgl.
Quelle 004). Das Pfründenwesen nahm Ausmasse und Auswüchse an, die dem Ansehen der Kirche massiv schadeten. Die inneren Werte wurden vernachlässigt, die Jagd nach dem Geld verhinderte die innere Einkehr, den Gang in den Brunnen. Ämter, die eigentlich der Verbreitung der inneren Werte – dem Brunnen – dienen sollten, wurden ins Gegenteil pervertiert, sie wurden zum Geldeintreiben missbraucht.
  
Werner T. Huber
   
Hostieneisen 1761    Den Zusammenhang zwischen der Brunnenvision und der Passionsmeditation von Bruder Klaus illustriert treffend ein Hostieneisen aus dem Jahre 1761: Bruder Klaus zeigt mit der rechten Hand auf das Kreuz und die Marterwerkzeuge, Lanze und Speer mit dem Essigschwamm. Aus dem Tabernakel (Tempel) auf der linken Seite sprudelt eine Quelle hervor.
    

  
  
Transkribierter Originaltext mit einleitendem Kommentar (PDF)
  
Synoptischer Vergleich beider Versionen (am Büel – Wölflin)
  
Hymnus «Veni, Creator Spiritus» – «Komm, Schöpfer Geist»
  
Und das Brot der Armen? – Konfrontation der Werte in der Brunnenvision
  
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